DIE ZÄRTLICHKEIT
HEIMWEH MEISTERWERKE - 08. September 2023
„Die Welt soll durch Zärtlichkeit gerettet werden“
Fjodor Michailowitsch Dostojewski
In von Krisen gebeutelten Zeiten bietet die Kunst allerhand Möglichkeiten, um dem entrückten Lauf der Welt die Stirn zu bieten. Eine davon liegt in der bewussten Umkehrung von Aggression und Rauheit. Für genau diesen Weg haben sich vier Musiker aus Köln entschieden – und folgerichtig ihre Band nach einer herzerfrischenden Tugend benannt: Die Zärtlichkeit lautet das Credo der Gegenwart.
Gewissermaßen ist die Gruppe ein Produkt der Pandemie. Allwöchentlich trafen sich Sänger Andreas Fischer und Gitarrist Tobias Emmerich hinter domstädtischen Wänden, um ihren musikalischen Entwurf auszuarbeiten. Zum Vorbild nahmen sie sich den britischen Jangle-Pop der 80er-Jahre: The Smiths, Orange Juice, Felt. Samtweich klangen jene Formationen und wenngleich ihre Melodien durchaus beschwingt daherkamen, wurden sie doch immer aus Empfindsamkeit geboren.
So verhält es sich auch bei Die Zärtlichkeit. Im März 2020 erschien ihre selbstbetitelte Debüt-EP, im November des selben Jahres veröffentlichten sie auf „Die Zärtlichkeit II“ vier weitere Stücke. An dieser Stelle bleibe nicht unerwähnt, dass sich das Duo seit dem Beitritt von Bassist Merlin Engelien und Schlagzeuger David Dasenbrook zum Quartett erweitert hat.
Mit „Heimweh Meisterwerke“ ist nun der Moment für den ersten Langspieler gekommen. Ohne Zweifel steht jene Platte in den Zeichen von Anmut und Grazie. Doch Obacht sei geboten: Am Ende von „Reptil“ etwa lauert in Gestalt von „Ulalala“-Chören ein gewiefter Spitzbubenstreich. Vorrangig tut es wohl, dass diese Band keine Bange hat vor Romantik. In Gärten tummeln sich von der Welt verlassene Tiere, der Mai lässt die Bäume hastig erblühen. So lieblich, so leichtfüßig die Lieder aber auch dahinziehen mögen – hinter so manch besungenem Himbeerstrauch hat sich der Pathos versteckt. Hört man etwa die folgenden Verse, möchte man vor Rührung vergehen:
„Und ich darf mich nicht verraten, ich träume hier von dir.
Und während ich hier träume, befreist du mich von mir“
„Ein kurzer Weg“ heißt das Lied, dem diese Zeilen entnommen sind. Es offenbart, wie schnell sich die Dinge - freilich durch die Liebe - zum Guten wenden können. Auch bei „Star“ nimmt das Schicksal eine rasende Wendung, die hier jedoch schnurstracks in den Abgrund führt. Das Stück nimmt sich einen Menschen zum Protagonisten, der den Sternen näher scheint, als der Erde: „Trotz makelloser Hülle scheint dein Inneres verdorben“. Gerade deshalb muss er verglühen – zumindest in dieser mit Scharfsinn vorgeführten Fallstudie.
Von einem Besuch in den Gefilden der Kindheit erzählt der Titel „Geteilt“. Das Licht am Morgen fällt noch immer wie damals vor dem Schulbeginn. Einige Klingelschilder tragen jetzt andere Namen, ein Baum ist verschwunden. Es ist die Geschichte eines Jemand, der sich aufgerieben fühlt zwischen der Vergangenheit und dem Jetzt. Zwischen Ankommen und Loslassen. Als bittersüße nostalgische Verklärung kommt das Schlusslied „In meinen Träumen“ daher. Die letzten Zeilen liefern schließlich den Beweis: Am Ende gewinnt Die Zärtlichkeit.
„In meinen Träumen bleiben die Menschen und Orte für immer“
Martin Schüler